Diese Website ist optimiert für Bildschirmgrößen ab 768 Pixeln Breite.

Bitte öffnen Sie den Link auf einem anderen Gerät oder vergrößern Sie Ihr Browserfenster.

Oliver Herwig

Schichtungen

Handzeichnungen. Schwarzweiß. Das sind Anachronismen in einer Welt, die sich digital verflüssigt und überholt. Wir sprechen hier nicht von schnell hingeworfenen Skizzen, die einer spontanen Eingebung folgen und mal eben eine Umrisslinie beschreiben oder ein Detail fixieren. Matthias Loebermann arbeitet an akkuraten Zeichnungen, die Architektur als Gedankengebäude aufscheinen lassen und die Auseinandersetzung mit gedachtem Raum sichtbar machen. Greifbar.

Das Blatt ist ein Reflexionsmedium, das Proportionen beschreibt, Materialien und Oberflächeneigenschaften. Architektur entsteht auf und aus den zwei Dimensionen des Blattes. Linie für Linie. In großen Formaten und präzisen Rhythmen. Schatten fallen im 45-Grad-Winkel, messer­-scharf ziehen sich die Linien über bereits vorhandene Linien, als wollten sie Bauteile wegstemmen. Wer kurz blinzelt, sieht sie aus der Zweidimensionalität des Blattes hervortreten wie Kontrapunkte im weichen Fluss hori­zon­taler Linienbündel. So sind es die Vertikalen, die als Rhythmusgeber der Zeichnungen besonders hervortreten: Fenster und Türen.

Die Arbeiten leben von der Dichte und spielen doch mit Freistellen und Leerräumen, die das Prinzip der Häuser wie auf einem Röntgenschirm aufscheinen lassen. Ihre Struktur, der Fassadenschnitt, der in feinen roten Linien aufscheint. Und am Rand – gewissermaßen als zweite Leseebene – feine Details und Fügungen, wie Bauteile einander begegnen und Übergänge formulieren.

Keine Frage: Diese Preziosen machen den Prozess des Entwerfens sichtbar – als Auseinandersetzung mit Raum, Material und Zeit. Bleistift, Buntstift, Lineal und Zeichen­brett sind die Werkzeuge der Wahl. Das analoge Arbeiten ist keine Attitüde, kein Konservativismus, der sich an die Welt von gestern anlehnt, das ist Matthias Loebermann selbst
und seine Annäherung an den Bau, den er hier offenlegt.

Vielleicht muss man sich den Übergang vom analogen zum digitalen Arbeiten vorstellen wie schmelzende Gletscher. Das kristalline Eis bricht auf, Risse durchziehen den Körper, bis ganze Stücke ins Rutschen kommen. Wenn Gletscher kalben, lösen sie kleine Flutwellen aus. Bruchstücke treiben als Schollen in salziger See und zergehen langsam. Die starken Bindungskräfte lassen los, die Form wird umrisslos, das Festgefügte geht auseinander. Wenn das analoge Arbeiten idealiter gekennzeichnet ist durch klare Abfolgen, eindeutige Entscheidungen und teils schwer umkehrbare Stationen, verspricht das digitale Arbeiten verflüssigte Prozesse bis zum Schluss. Jedes Komma eines Textes kann noch gesetzt werden, jeder Text kann umgestellt und ganz neu gelesen werden. Jedes Bild ist unfertig bis zu dem Augenblick, an dem es ausbelichtet wird – und jede Architektur könnte prinzipiell ganz anders aussehen. Prozesshaftigkeit bis zum Schluss bietet enorme Vorteile – sie vernetzt und beschleunigt. Das analoge Entwerfen klärt viele Varianten und Ab­zweigungen im Vorfeld oder spätestens im Moment, in dem die Hand zum Stift greift.

Wer mit der Hand schreibt und zeichnet, geht eine ganz andere Verbindung ein zwischen Imagination und Umsetzung. Die Linie, die mit dem Bleistift einmal gesetzt ist, kann nicht einfach zurückgenommen werden. Radiergummis und scharfe Messer sind kein Undo-Button, der den Gedankengang zurücknimmt bis zu Verzweigungspunkten, die neue Varianten zulassen. Wer mit der Hand zeichnet, legt sich fest. Im besten Sinne entsteht eine meditative Einheit aus Hand, Zeichengerät und Auge. Die langsame Verfertigung der Zeichnung beim Arbeiten setzt Konzentration voraus und Leichtigkeit. Varianten werden schneller verworfen, vielleicht, weil der Zeichner wie ein geübter Go-Spieler intuitiv Umwege ahnt und Widerstände. Das heißt nicht, dass hier perfekte Blätter entstünden, im Gegenteil. Gerade das Unperfekte, das sich in jede Zeichnung einschreibt, der menschliche Duktus macht sie so spannend. Die Hand am Zeichentisch sorgt für Konzentration. Die Konzentration sorgt für Dichte. Die Dichte erzeugt Ruhe.

Das ist es, was die zeichnerischen Arbeiten von Matthias Loebermann so einzigartig macht. Man blickt auf ihre Schichtungen und entdeckt: verdichtete Zeit.